17/02/2009

Milan Kundera über Blogger

Eine Frau, die ihrem Geliebten jeden Tag vier Briefe schreibt, ist keine Graphomanin, sondern eine verliebte Frau. Aber einer meiner Freunde, der seine Liebeskorrespondenz ablichten läßt, um sie irgendwann veröffentlichen zu können, ist ein Graphomane. Graphomanie ist nicht das Verlangen, Briefe, Tagebücher oder Familienchroniken zu schreiben (also für sich selbst oder für seine Angehörigen zu schreiben), sondern das Schreiben von Büchern (um ein Publikum aus unbekannten Lesern zu haben). [...]

Graphomanie [...] wird zwangsläufig zur Massenepidemie, wenn die gesellschaftliche Entwicklung drei grundlegende Voraussetzungen schafft:

1. hoher Grad allgemeinen Wohlstands, der es den Menschen ermöglicht, sich unnützen Tätigkeiten zu widmen;

2. hohes Maß an Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens mit der daraus resultierenden allgemeinen Vereinsamung des Lebens;

3. radikaler Mangel an umfassenderen gesellschaftlichen Veränderungen im Innenleben der Nation. (Mir scheint bezeichnend, daß in Frankreich, wo im großen und ganzen nichts geschieht, der Prozentsatz an Schriftstellern einundzwanzigmal höher ist als in Israel. [...] Gerade der Mangel an Lebensinhalt, diese Leere, ist der Motor, der [einen Graphomanen] zum Schreiben treibt.)
4. die Möglichkeit, das Geschriebene kostenfrei und unaufwendig weltweit zu veröffentlichen.

Das Zitat stammt aus dem Buch vom Lachen und vom Vergessen (st 868), S. 125. Und hier ist der nicht unverwandte Post “X are from Email, Y are from Blog” von Steve Sailer.

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